@Cathedral Wall, Du triffst den Nagel voll auf den Kopf. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Genre, das konventionell
Progressive Rock heißt, und Musik, die im eigentlichen Sinne
progressiv ist. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, und das ist etwas, wessen sich jeder Prog-Fan bewusst bleiben sollte. Es ist sicher nicht nur der Länge des Terminus "Progressive Rock" geschuldet, dass sich dafür die Kurzform "Prog" etabliert hat; das geschieht sicher auch, um schon vom Wort her Abstand zum Begriff des "Progressiven" zu gewinnen.
Du nennst Wobbler als eine Prog-Band, die nicht progressiv ist - richtig, da ist nichts, was es nicht schon in den frühen 70ern schon gab, das ist wie Yes, Genesis & Co. Und deshalb ist es vom Genre her
Prog - und genau deshalb auch
nicht im Wortsinn
progressiv. Man hat ja für diese Spielart von Prog die Bezeichnung "Retro-Prog" geprägt, die, wenn man sie etymologisch aufdröselt, alles auf den Punkt bringt: das ist "rückwärtsgewandte vorwärtsgewandte Rockmusik"

Den Gegenpol bilden solche Bands wie Velvet Underground oder die Residents, die von ihrem ästhetischen Ansatz her viel radikaler waren als jegliche Spielart des Prog, aber eben kein Prog sind, nicht sein
können.
Zu Deinem zweiten Punkt, dass es "nichts Neues unter der Sonne" mehr gäbe, kann ich sagen, dass ich das oft auch so empfinde. Es scheint alles schon mal dagewesen zu sein, und umgekehrt ist alles, was irgendwann mal da war, noch oder wieder da. Genre-Landkarten wie
diese,
diese oder
diese weisen nach 2000 nur noch wenige und nach 2010 überhaupt keine neuen Stilrichtungen mehr aus. Irgendwie hat man das Gefühl, die Musikgenres wären "ausentwickelt".
Aber vielleicht liegt es nur daran, dass es schon so viel gibt, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass eine neue (oder eine sich neu erfindende alte) Band mit ihrer Musik in "Neuland" hineinstolpert - "hineinstolpert" deswegen, weil die
wenigsten Musiker, die neue Genres erschlossen, ganz bewusst ein neues Genre begründen wollten, sondern einfach Musik machten, wie ihnen der Kopf stand, und die Musikjournalisten - die ja diejenigen sind, die in der Regel die Genrebezeichnungen vergeben - nichts fanden, was so ähnlich war, und deshalb eine neue Schublade aufmachen mussten. Heutzutage ist die Wahrscheinlichkeit einfach viel größer, dass es schon mal jemanden gab, der so was schon mal gemacht hat, so dass die Band in eine bereits bestehende Schublade einsortiert werden kann.
Oder es ist so, dass den Schreibern zu diesem Thema einfach nichts mehr einfällt - beziehungsweise die ganze Schubladenmeierei heutzutage einfach dermaßen unhip ist, dass
niemand mehr neue Genres erfinden will, um bloß nicht als "Schubladenmeier" dazustehen. Ich bin jedenfalls schon auf viele Fälle gestoßen, wo irgendeiner Band ein Stiletikett verpasst wurde, das vorn und hinten nicht passte, ich aber selbst keine blasse Idee hatte, wo sie denn sonst hinpassen könnte.
Vielleicht ist der "Prog-Rock" im Sinne des Alternative Rock so ein Fall - da tauchten in den 90er Jahren Bands auf, deren Musik zwar nichts mit Prog zu tun hatte, aber man wollte kein neues Genre erfinden, und zwängte das dann in die Prog-Schublade nach dem Motto "Die Stücke sind so lang, und manches davon in krummen Takten, das kann nur Prog-Rock sein!". Und das hat sich dann verselbstständigt, zumal der "echte" Prog als dermaßen nerdig verschrien war, dass die meisten Hipster-Journalisten da einen blinden Fleck hatten. Aber so richtig überzeugt bin ich auch von dieser Theorie nicht. Warum eine Bezeichnung für etwas absolut Uncooles bemühen, wenn man nicht etwas gerade als uncool brandmarken will, was hier nicht der Fall zu sein scheint? Obwohl, in dieser Stadt hat jemand mal eine Kneipe "Golden Goal" genannt - aber nach drei, vier Wochen war der Laden dann auch schon wieder pleite. Es gab anscheinend nicht genug Fußballfunktionäre im Einzugsgebiet
