Zu dem Halbscheffel-Buch ist noch zu sagen, dass die trocken-akademische Sprache nicht das Einzige ist, was mir an diesem Buch missfällt. Das Buch ist nämlich weniger eine Gesamtdarstellung des Progressive Rock als eher eine Sammlung von Aufsätzen zu bestimmten Aspekten dieser Musikrichtung. Viele wichtige Aspekte bleiben unberücksichtigt. Ferner setzt es teilweise musikwissenschaftliches Wissen, vor allem im Bereich der Popularmusik und ihrer Geschichte, voraus, das wahrscheinlich nicht jeder interessierte Leser mitbringt (aber sich größtenteils nicht allzu schwierig nachschlagen lässt, etwa im Handbuch der populären Musik von Peter Wicke, Wieland und Kai-Erik Ziegenrücker). Und das Kapitel "Prog nach Prog" befasst sich nicht mit Neoprog und anderen Entwicklungen im Prog nach der klassischen Ära, sondern mit mehreren einzelnen Bands, von denen die meisten wenig bis nichts mit Prog zu tun haben, wenn sie auch im Wortsinn irgendwie "progressiv" sind. Das alte Problem also. Trotz aller Mängel ist dieses Buch aber in meinen Auge durchaus lesenswert!
Von Bernward Halbscheffel kenne ich noch zwei Bücher über Prog. Das eine ist das Lexikon Progressive Rock, wie der Titel vermuten lässt ein Lexikon mit alphabetisch geordneten Stichwortartikeln - ein durchaus nützliches Nachschlagewerk, bei dem aber die Stichwortauswahl teilweise schwer nachzuvollziehen ist: es fehlen einige bedeutende Prog-Bands, dafür sind einige Gruppen aufgenommen, bei denen man sich fragt, was zum Kuckuck die denn mit Progressive Rock zu tun haben sollen, und bei den Sachstichwörtern gibt es ähnliche Probleme.
Das andere Buch ist seine Dissertation Rock barock, die sich nur mit einem Aspekt befasst, nämlich Einflüsse, Zitate und Adaptionen "klassischer" Musik im Rock. Das ist ein Aspekt, der fraglos für das Verständnis des Phänomens Progressive Rock sehr wichtig ist und den Halbscheffel auch in Progressive Rock: die Ernste Musik der Popmusik in den Mittelpunkt rückt, aber eben nur ein Aspekt. Ich würde eher sagen, dass es im Prog allgemein darum geht, die Grenzen des Popsongs zu überwinden, und da ist der Formenreichtum der Kunstmusik eben eine ergiebige Quelle, aber eben nur eine von mehreren. Es gibt im Prog auch Formen, die aus dem Jazz, der Folk Music oder außereuropäischen Musikkulturen stammen oder einfach organisch aus dem Formenkanon des "traditionellen" Rock heraus entwickelt wurden, und längst nicht alle Prog-Musiker habe klassische Kompositionen adaptiert.
Besser gefallen als Halbscheffels Buch hat mir Progressive Rock: Pomp, Bombast und tausend Takte von David Weigel (eine Übersetzung aus dem Englischen), das auch billiger und leichter zu beschaffen ist, aber wie die meisten populären Publikationen zur Rockmusik nicht allzu sehr in die Tiefe geht und mehr Anekdoten und Interviewäußerungen als Hintergründe liefert. Also eher kurzweiliger Lesestoff als ein fundiertes Handbuch, und keine Konkurrenz zu Halbscheffel, sondern eine ganz andere Art, mit dem Thema umzugehen. Auch werden die Entwicklungen nach der klassischen Ära sowie in anderen Ländern nur gestreift, wie in fast allen Publikationen zum Progressive Rock. Das Buch, das ich mir wünschen würde, ist anscheinend noch nicht am Markt - also schreibe ich es selbst (ist auch schon recht weit gediehen).